»Michaela Schleunungs Werk hat sich über Jahre hin konsequent entwickelt. Unter den künstlerischen Techniken gehört der Zeichnung von jeher ihr stärkstes Interesse. Fast durchweg benutzt sie: eine Mischtechnik aus Kohle und schwarzer Kreide, die teilweise ( vgl. »Feuerstelle«) durch Asche bereichert ist. Wichtig für die Wirkung ihrer bildkünstlerischen Arbeiten ist die Wahl der verschiedenen Papiersorten, etwa einem feinen Transparentpapier oder einem hochwertigen Fabriano-Papier. Die Künstlerin arbeitet in sehr unterschiedlichen Formaten, von winzigen, streichholzschachtelgroßen Notationen bis hin zu metergroßen »Wandzeichnungen«. Dieses Arbeiten in verschiedenen Formaten hat für sie nich zuletzt sich gegenseitig kontrollierenden, überprüfenden Charakter. Der Werkprozess Schleunungs besteht aus einem steten Wechselspiel von bewusster, Schritt für Schritt konstruierender Gestaltwerdung und dem Gewährenlassen von Zufall und Zufälligkeiten. Ein wichtiges Element ihrer Kunst ist die serielle oder zyklische Zusammenstellung mehrer Blätter in einem Werk. Häufig finden sich auch kleine Mappenwerke, Leporelloalben oder Zeichnungsfolgen. Von hier ausgehend werden einzelne Grundgedanken im Schaffen Schleunungs verständlich. Das zyklische Arbeiten entspricht der in den Blättern Ausdruck findenden Vorstellung von Aufbau und Vergänglichkeit, von Wachsen, Verwelken und erneutem Wachsen, von Lebendigkeit und Starre, Tod und Leben. Letztlich scheint ihr die Bewegung, die Dynamik – und sei sie auch nur schwach spürbar – Nachweis der Lebensfähigkeit und der Entwicklungsmöglichkeiten des Lebens. Die Formfindungen schwanken dabei zwischen urzeitlich anmutenden pflanzlichen und tierischen Wesen, Schachtelhalmern etwa oder Schnecken und Muscheln, kleinen Insekten, und abstrakten Formen wie Planken, Stäbe, Balken, Stangen, Treppenteile, Kugeln oder Schachteln. Auch diese angeblich »toten« Gegenstände, die auf unentwirrbare und doch geordnete Weise ineinander verkeilt scheinen, werden offenbar von einem ihnen innewohnenden Impuls belebt, unterliegen einer Transformation. Große Bedeutung kommt in der sensiblen zeichnerischen Durchbildung dem Spiel von Licht und Schatten und der Suggestion irrealer Räume zu.«
Wolfgang Holler
Das Lebendige ist mir lieber als das Unsterbliche.
Robert Walser
Kunst und Naturwissenschaft gehören heute zwei getrennten Sphären an. Am deutlichsten zeigt sich ihr Unterschied im Verhältnis zum Subjekt: Kunst ist im weitesten Sinne subjektbezogen, um nicht zu sagen expressiv. Trotz objektivistischer Tendenzen im Avantgardismus steht sie in enger Beziehung zum Künstler. So wird auch heute noch bei der Wahrnehmung und Beurteilung eines Kunstwerkes die Frage nach dem Produkt häufig überlagert durch die Frage nach dem Produzenten: Wer ist der Urheber des Kunstwerks? Zwar können auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Entdeckungen einzelnen Wissenschaftlern zugeschrieben werden, doch ist ihr Wert unabhängig von ihrem Entdecker. Sie lösen sich von ihm ab und treten in einen intersubjektiven Raum, der bestimmt wird durch logische Konsistenz, methodische Beobachtung und intersubjektive Überprüfbarkeit. Diese Ausdifferenzierung der beiden Sphären vollzieht sich zunehmend seit der Renaissance, wobei sich hier für einen historischen Augenblick Kunst und Naturwissenschaft im Ideal des Künstlerwissenschaftlers berühren. Seine Kunst basiert weitgehend auf exakter Beobachtung und mathematischer Berechnung. Ebenfalls zur Zeit der Renaissance, aber auch noch weit darüberhinaus, tritt ein Sammlerinteresse zu Tage, das naturwissenschaftliche Objekte und Kunstwerke vereint. In den Kuriositätenkabinetten, Wunder- und Raritätenkammern werden Naturalia und wissenschaftliche Instrumente ebenso zur Schau gestellt, wie etwa kunstgewerbliche Gegenstände, antike Münzen und Gemälde. Die strikte Trennung von Kunstmuseum und naturhistorischem Museum findet erst im 19. Jahrhundert statt. Das Museum selbst ist wesentlich ein Produkt des erwachten Geschichtsbewusstseins. Dieses erfasst nun auch das Verständnis der Natur. Sie gilt nun nicht mehr als unumstößlich geschaffen, sondern als eine Art von »work in progress«. Den Gegensatz zwischen Naturgeschichte und Geschichte, zu der auch die Kunst zu rechnen ist, versuchte Wilhelm Dilthey, in dem Gegensatz zwischen Erklären und Verstehen zu fassen. Auch wenn Kunst nicht in Hermeneutik aufgeht, bleibt ein Moment dieses Gegensatzes bis heute virulent. Die beiden auseinandergetretenen Sphären Kunst und Naturwissenschaft sind heute letztendlich kaum zu überbrücken. Um so größere Aufmerksamkeit verdienen Projekte, in denen eine Art von Brückenschlag versucht wird. Hierzu gehört die von Michaela Schleunung für das Paläontologische Museum München konzipierte Ausstellung. Ihre Installation bezieht sich sowohl auf die räumliche Situation, als auch auf die paläontologischen Exponate. Was geschieht also, wenn Kunst und Naturwissenschaft aufeinandertreffen? Wie geht Michaela Schleunung mit der vom naturwissenschaftlichen Anspruch besetzten Situation um? Michaela Schleunung arbeitet nicht gegen die bestehenden Objekte der Sammlung, sondern mit ihnen. Wie schon in früheren Arbeiten, besonders deutlich in ihren Büchern, wo sie etwa »Naturalia« und anatomische Studien einbezieht, stellt sie einige der naturgeschichtlichen Exponate in einen umfassenderen von ihr geschaffenen Zusammenhang. Sie setzt beim Ausstellungscharakter der paläontologischen Fundstücke an. Der Berührungspunkt von Kunst und Wissenschaft ist im Museum die Tatsache des Ausgestelltseins. Mögen die Zwecke auch verschieden sein, sowohl das paläontologische Objekt als auch das Kunstwerk zielen im Museum auf Selbstdemonstration. Dabei kommt dem paläontologischen Fundstück immer auch die Aufgabe zu, die begleitenden wissenschaftlichen Theorien zu illustrieren. Aufgrund der urweltlichen Faszination, die an den Exponaten haftet, wird diese Aufgabe, zumindest für den paläontologischen Laien, meist in den Hintergrund gedrängt. Wie um die ausgestellten Exponate dem alleinigen Anspruch der wissenschaftlichen Theorie mit den Mitteln der Kunst zu entreißen, bedeckt Schleunung den gefließten Steinboden des Museumslichthofes mit Kohlezeichnungen. Sie umgeben nun die Sockel der dort plazierten Urtiere. Die Tierskelette werden dadurch Teil einer dramatisch bewegten Umgebung, die zwischen Schwarz und Weiß pulsiert. Wissenschaftliche Naturgeschichte wird gleichsam gerahmt von einer Art Schöpfungsmythos, der mehr dem Gesetz permanenter Wiederkehr als dem linearer Entwicklung folgt. Die Exponate sind nun erstarrte Inseln in einem lebendig bewegten Umfeld, das nichts festes zuläßt. Dies zeigt insbesondere der Blick von oben: die skelletierten Tiere stehen in einer Welt aus Wolken oder Wasser, einer diffusen Materie, die sich in Licht und Schatten auflöst. Der sich in das Hell-Dunkel versenkende Blick entdeckt angedeutete Fossilien. Sie wirken, als könnten sie eines Tages ebenso hervortreten wie die auf ihren Sockeln fixierten Tiergebeine. Die Dramatik von Licht und Dunkel, der Rekurs auf eine Art von vorweltlicher permanenter Schöpfung findet sich gleichermaßen in den Bildern, die Schleunung oben an der Brüstung des Lichthofes ausstellt. Die Bilder sind so gezeichnet, daß sich weder der Standpunkt des Betrachters in Bezug zum Bild eindeutig festlegen läßt, noch die Dimension des Dargestellten. Offen bleibt, ob es sich um makro-oder mikrokosmische Dimensionen handelt. Deutlich allerdings ist die dramatische Emphase der dargestellten Vorgänge: dampfende Nebel hinter denen Licht erstrahlt, die Geburt von Welten aus dem Kampf von Hell und Dunkel, ein zeitentrücktes Schöpfungslabor als mythologisches Schöpfungstheater. Michaela Schleunung unternimmt den durchaus romantischen Versuch das Subjekt in die Objektivationen der Naturwissenschaft hinüberzuretten.
Heinz Schütz